Wie sich bei Fukushima zeigt, leidet die schwierige Aufgabe der großflächigen Dekontamination nach Nuklearunfällen unter einem Mangel an Informationsaustausch über frühere praktische Erfahrungen. Die Erfahrungen mit großflächiger Dekontamination sind spärlich, und von einigen Dekontaminationsfällen, bei denen Informationen gesammelt wurden, wie z.B. in Kyshtym, Sowjet Union, oder dem Palomares Zwischenfall, USA/Spanien, ist wenig bekannt, weil militärische Einrichtungen und Aktivitäten betroffen waren. Aber auch die Massnahmen nach Windscale (1957) oder Tschernobyl (1986) wurden nie systematisch aufgearbeitet, analysiert und öffentlich zugänglich publiziert. Die 10 Bände umfassende Sammlung offizieller Berichte zu Tschernobyl in russischer Sprache wurde erst kürzlich deklassifiziert.
Der technische Hauptverantwortliche für die Dekontamination von Tschernobyl, Iouli Andreev (Jahrgang 1938) und seine Frau Irina Andreeva, gebürtige SowjetbürgerInnen, jetzt österreichische StaatsbürgerInnen, sind bereit ihre Erfahrungen und Unterlagen dokumentieren und nutzbar machen zu lassen. DI Iouli Andreev war in verschiedenen Funktionen mit der Dekontamination in Tschernobyl befasst, zeitweise als technischer Leiter. Seine Frau, DI Irina Andreeva, war als Entwicklungstechnikerin im Nuklearbereich nach Tschernobyl berufen worden. Beide leben als österreichische Staatsbürger in Wien und haben sich bereit erklärt, ihre Erfahrungen und ihre persönlichen Unterlagen und Dokumente zur Katalogisierung und Dokumentation zur Verfügung zu stellen. Gemeinsam mit ihnen sollen sie analysiert werden, um die Planung künftiger grossflächiger Dekonatminationsaufgaben zu erleichtern und verbessern und dadurch zur Schonung von Leben und Gesundheit von Einsatzkräften und DekontaminatorInnen beizutragen.
Wiewohl es seit ihrem Einsatz in Tschernobyl zweifellos technologische Fortschritte in der Dekontamination gegeben hat, sind die Erfahrungen von Tschernobyl dennoch von unschätzbarem Wert. Bekanntlich bewähren sich Instrumente und Verfahren, die im Konstruktionsbüros und Laboratorien entwickelt und getestet wurden, unter realen Unfallsbedingungen nicht immer, wegen der Vielzahl an zusätzlichen unvorhergesehenen und kaskadischen Problemen, die für grosse Unfälle charakteristisch sind. So kann aus den praktischen Erfolgen aber vor allem auch Schwierigkeiten in der Umsetzung theoretisch sinnvoller Lösungen auch für neuere Methoden unschätzbarer Nutzen gezogen werden. Ein interaktiv erstelltes "Erfahrungshandbuch" kann ein Beitrag zur besseren Planung von Dekontaminationsmassnahmen und damit zur Schonung von Leben und Gesundheit von Einsatzkräften und DekontaminatorInnen sein.
Bedauerlicherweise zeichnet sich bereits ab, dass auch die Erfahrungen von Fukushima nicht in geeigneter, objektiver Weise dokumentiert und systematischer Analyse zugänglich gemacht werden. Umso wichtiger ist es, die einzigartige Gelegenheit, die sich zur Dokumentation der Tschernobylerfahrungen bietet, zu nutzen. Die besonderen politischen Rahmenbedingungen der Sowjet Union sind hinsichtlich der Organisation der Dekontaminationsmassnahmen wesentlich, die technologischen Erfahrungen sind davon jedoch unabhängig.
Ausführliche Interviews mit Iouli Andreev und Irina Andreeva stellen das Kernstück des Projektes dar. Zur Vorbereitung werden frühere Informationen beider und fachliche Unterlagen dienen. Unterlagen und Dokumente aus dem Besitz der Andreevs, sowie Bücher, Artikel, Filme, etc. die nach Tschernobyl veröffentlicht wurden, werden gemeinsam mit den Informationen aus den Interviews katalogisiert, in Hinblick auf grossflächige Dekontamination analysiert und in ein wissensorientiertes Dokumentationssystem eingepflegt. Als Ergebnis soll ein „Erfahrungshandbuch“ mit Hintergrundinformationen vorliegen. Die Convergent Interview Methode erscheint für diese Aufgabe besonders gut geeignet zu sein, weil sie die Gespräche von einer narrativen Interviewtechnik, über eine explorative Phase zur Vertiefung der Information über zusätzliche Interviews, aber auch externe Informationen führt, bis in der letzten Phase der Input für das Handbuch finalisiert werden kann. Spätestens wenn der erste Entwurf des Handbuches vorliegt soll die Interaktion mit Dekontaminationsspezialisten aus Österreich und auf internationaler Ebene diese mit den Ergebnissen vertraut machen, und eine Diskussion auslösen, die auch in Österreich und anderen Ländern derzeit herrschende Konzepte zur grossflächigen Dekontamination mit einbezieht. Im direkten Kontakt kann die Erfahrung der Andreevs genutzt werden, um auf mögliche Probleme im Ernstfall hinzuweisen.
Projektleiter:
Mag. Richard Kromp
richard.kromp (at) boku.ac.at
ARGE-Leiter:
Universität für Bodenkultur / Zentrum für Globalen Wandel und Nachhaltigkeit
Weitere Kooperationspartner:
BMLVS/Landesverteidigungsakademie / Zentraldokumentation einschließlich ABC Abwehrschule
Kontakt:
Mag. Richard Kromp
Universität für Bodenkultur / Zentrum für Globalen Wandel und Nachhaltigkeit
Borkowskigasse 4 Baracke 4, 1190 Wien
Tel: +43 (1) 47654 - 7708
E-Mail: richard.kromp (at) boku.ac.at
http://www.boku.ac.at/wissenschaftliche-initiativen/zentrum-fuer-globalen-wandel-nachhaltigkeit/